Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Beschluss vom 13. September 2022 (Az.: 1 ABR 22/21) festgestellt, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet sind, nicht nur geleistete Überstunden zu erfassen, sondern die komplette Arbeitszeit der Beschäftigten. Die höchsten deutschen Arbeitsrichter begründen dies mit einer europarechtskonformen Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes und berufen sich dabei auf das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung aus Mai 2019 (Az.: C-55/18).
Um den Arbeitsschutz zu gewährleisten müssen Lage, Beginn, Dauer und das Ende der Arbeitszeit durch den Arbeitgeber tatsächlich erfasst werden. Nicht ausreichend ist damit die bloße Notiz der geleisteten Stunden abzüglich der Pausenzeiten. Selbiges gilt für die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems. Nach der Rechtsprechung des EuGHs muss hiervon auch tatsächlich Gebrauch gemacht werden.
Ab wann muss erfasst werden und wie?
Der EuGH hat in seiner Entscheidung aus 2019 die Vorgabe gemacht, dass die Zeiterfassung verlässlich, objektiv und leicht zugänglich sein muss. Das BAG konkretisiert dies und stellt klar, dass es nicht zwingend einer elektronischen Zeiterfassung bedarf. Vielmehr können – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen auch in Papierform genügen. Das BAG hat dabei auch klargestellt, dass der Arbeitgeber die Aufzeichnung der Arbeitszeit an die Arbeitnehmer delegieren kann.
Für die konkrete Umsetzung im Betrieb bleibt Arbeitgebern damit ein Gestaltungsspielraum. Dieser ist auch notwendig, um die Besonderheiten der jeweiligen Tätigkeitsbereiche und Eigenheiten der Unternehmen – abhängig von Größe und Branche – berücksichtigen zu können.
Allerdings muss das System revisionssicher und für das Unternehmen sowie die Beschäftigten praktikabel sein, sodass die Arbeitszeiten auch tatsächlich und entsprechend der Vorgaben erfasst werden. Es bleibt abzuwarten, ob das BMAS hierzu nähere Vorgaben machen wird.
Wie könnte die elektronische Zeiterfassung konkret ausgestaltet sein?
Hier gibt es vielfältige Möglichkeiten der Zeiterfassung: Beschäftigte am Bau könnten beispielsweise an einem Terminal vor Ort buchen, Außendienstmitarbeiter:innen über eine Smartphone-App oder Mitarbeiter:innen (im Home Office) über ein Mitarbeiterportal am Rechner. Im Idealfall werden die erfassten Daten automatisch verarbeitet, bewertet und direkt in das Lohnabrechnungssystem gespielt. Bei einer elektronischen Zeiterfassung sollten Arbeitgeber auch stets datenschutzrechtliche Belange prüfen (vgl. Arbeitszeiterfassung mittels Fingerprint, LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.06.2020, Az.:10 Sa 2130/19).
Bedeutet das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ein Ende der Vertrauensarbeitszeit?
Hierzu besteht noch keine abschließende Klarheit. Grundsätzlich ist das Konzept der Vertrauensarbeit, dass der Arbeitgeber auf die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit verzichtet und darauf vertraut, der betreffende Arbeitnehmer werde seine Arbeitspflicht in zeitlicher Hinsicht auch ohne Kontrolle erfüllen (vgl. BAG, Urteil vom 23.09.2015, Az.: 5 AZR 767/13). Dies schließt eine Zeiterfassung jedoch nicht per se aus.
Vielmehr sorgt die Arbeitszeiterfassung bei Vertrauensarbeitszeit dafür, dass die erbrachten Tätigkeiten gerade an häufig sehr zerstückelten Arbeitstagen mit mehreren Arbeitsphasen an unterschiedlichen Arbeitsorten letztlich für beide Seiten transparent und nachvollziehbar werden.
Zeiterfassung vs. Arbeitnehmerüberwachung
Die Pflicht zur Zeiterfassung hat auch nicht zur Folge, dass sich daraus eine unzulässige Arbeitnehmerüberwachung ergibt, denn im Arbeitsrecht gilt der Grundsatz „Arbeit gegen Lohn“. Es gehört also gerade zu den Hauptleistungspflichten der Beschäftigten ihre vertraglich geschuldete Arbeitsleistung im Rahmen der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit auch tatsächlich zu erbringen; und dies darf der Arbeitgeber auch anhand der Zeiterfassung kontrollieren.
Was droht bei Verstößen gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung? Müssen nur Arbeitgeber oder auch Arbeitnehmer mit Sanktionen rechnen?
Tatsächlich führt die Missachtung der BAG-Entscheidung nicht unmittelbar zu Geldbußen. Die Pflicht zur vollumfänglichen Zeiterfassung ergibt sich aus § 3 ArbSchG, Verstöße hiergegen sind jedoch nicht automatisch nach § 25 ArbSchG bußgeldbewehrt, sondern bedürfen einer konkreten Anordnung durch die Behörde. An dieser Stelle bleibt abzuwarten, ob und wie eine Umsetzung durch den Gesetzgeber erfolgt und ggfs. weitergehende Strafen eingeführt werden.
Fazit
Bislang bestand die vorherrschende Ansicht – auch aus dem BMAS – darin, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung wie nunmehr vom BAG vorgesehen in Deutschland (noch) nicht gelte. Dem ist jedoch nicht so. Es bedarf auch keiner Gesetzesänderung, sondern vielmehr einer europarechtskonformen Anwendung der bereits bestehenden nationalen Vorgaben zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Auch wenn bei der konkreten Ausgestaltung der Zeiterfassung Gestaltungsspielräume verbleiben, stellen die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer Ziele dar, die rein wirtschaftlichen Überlegungen der Arbeitgeber nicht untergeordnet werden dürfen, so das BAG.
Hierzu mehr im folgenden Artikel von Vivien Demuth (Rechtsanwältin): BAG: Pflicht zur Zeiterfassung, ein Paukenschlag!
Autor: Sebastian Wurzberger